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Der wunde Geist des Kapitalismus

von Bernd Ziesemer
In jeder großen Finanzkrise stirbt das Vertrauen zuerst und die Hoffnung zuletzt. Was wir in diesen Monaten erleben, unterscheidet sich von seinen historischen Vorläufern nicht so sehr durch das Ausmaß der Verwerfungen auf den Märkten, die Zahl der Bankenpleiten oder die Kursverluste an den Börsen.

Aber in keiner anderen Finanzkrise ging so viel Vertrauen verloren wie in dieser: Vertrauen in die Banken, Vertrauen in die Märkte, Vertrauen in die Finanzaufsicht, Vertrauen in das ganze kapitalistische System.
Ohne Vertrauen kann eine Marktwirtschaft aber nicht funktionieren. Wechselseitige Loyalität, Pflichtgefühl und Vertrauen gehören zu den Grundwerten eines kapitalistischen Systems, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama in seinem großen Buch „Trust“ schreibt: „Diese Eigenschaften sind keineswegs Anachronismen innerhalb einer modernen Gesellschaft, sondern vielmehr Conditio sine qua non ihres Erfolgs.“ Sie konstituieren letztlich das, was Max Weber den „Geist des Kapitalismus“ nannte. In der jetzigen politischen Debatte über die Ursachen und die Folgen der Finanzkrise geht es um nicht weniger als die Frage, ob wir den ursprünglichen Wertekanon unserer freiheitlichen Gesellschaft neu begründen können – oder einem neuen Geist des Etatismus oder sogar des Neosozialismus opfern.

Die Ethik des Vertrauens
Vertrauen gehört frei nach dem Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow zu den Gütern mit einem realen, ganz praktischen Wert. In der Neuzeit mit ihrer aufstrebenden Welt des Handels entwickelten sich die ersten wesentlichen Instrumente des Kapitalismus, die ohne Vertrauen nicht funktionieren konnten: der Wechsel, die Seeversicherung auf Gegenseitigkeit, die Aktie, der moderne Kredit. Die Entwicklung des Kapitalismus brauchte „eine Ethik, um Vertrauen in die komplexen Mechanismen von Geben und Nehmen zu bringen: Kreditwürdigkeit, Qualitätszusagen, Lieferversprechungen, Abnahmegarantien und Absprachen über Gewinnbeteiligungen“, schrieben die Wirtschaftshistoriker Nathan Rosenberg und L.E. Birdzell. Wir brauchen mit anderen Worten Vertrauen als Voraussetzung für Komplexität. Daraus folgt: Je komplexer unsere Wirtschaftssysteme werden, umso weniger können sie ohne Vertrauen funktionieren.
Das gilt gerade für die moderne Finanzwelt und ihre wichtigsten Akteure, die Banken. Man sollte sich immer wieder klarmachen: Ausnahmslos jedes Kreditinstitut treibt in die Insolvenz, wenn seine Kunden ihr Vertrauen verlieren und mit einem Schlag ihre Einlagen zurückverlangen. Selbst die stärksten Banken mit den höchsten Eigenkapitalquoten können unter besonderen Bedingungen über Nacht in die Illiquidität rutschen, wie die jetzige Finanzkrise demonstriert. Deshalb sollte den Banken nichts so heilig sein wie ihr Vertrauenskapital. Trotzdem haben einige von ihnen damit in der Vergangenheit Schindluder getrieben. Privatbankiers alter Schule wie der Schweizer Karl Reichmuth beobachteten 2007 beispielsweise mit Schrecken, wie eine amerikanische Großbank auf eigene Rechnung massiv auf den Kollaps des Subprime-Marktes wettete, ihren Kunden aber weiter in großem Stil Subprime-Papiere verkaufte. So zerstört man nachhaltig Vertrauen.

Risiko und Haftung
In den Zeiten des billigen Geldes verludern die Sitten des Kapitalismus. Leichte Gewinne und Kasinowetten, schnelle Boni und Superrenditen widersprechen dem ursprünglichen Geist des Kapitalismus. Max Webers „protestantisches Arbeitsethos“ und das ehrliche Kaufmannswort, Nüchternheit und philosophische Rationalität, das Bewusstsein knapper Ressourcen und vorsichtigen Kapitaleinsatzes gehören zu den konstitutiven Elementen des Unternehmertums. Die überwältigende Mehrheit der 2,8 Millionen Personengesellschafter in der Industrie und der persönlich haftenden Eigentümer von Privatbanken in Deutschland lebt diese Werte. Der alte Robert Bosch war davon überzeugt, ein Unternehmer solle „lieber Geld verlieren als Vertrauen“.
Wo sich unternehmerische Entscheidungen und die persönliche Haftung für diese Entscheidungen noch decken, finden sich auch in dieser Finanzkrise die wenigsten Exzesse. Gerade von den heute so verschrienen Neo- und Ordoliberalen stammt die Erkenntnis von der fundamentalen Bedeutung des Haftungsprinzips für die Marktwirtschaft: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“ (Walter Eucken). Wo dieser Zusammenhang verloren geht, beispielsweise bei der vollständigen Übertragung des Kreditrisikos von der Vertragsbank auf anonyme Investoren, kommt es zu schwersten Fehlentwicklungen.

Eine völlig falsche Debatte
Nach einer der schlimmsten Bankenkrisen aller Zeiten, der großen Panik von 1907, schrieb der legendäre amerikanische Finanzier J. Pierpont Morgan: „Ein Mann, dem ich nicht traue, bekommt von mir kein Geld, selbst wenn er sämtliche Anleihen der Christenheit als Sicherheit vorlegen sollte.“ Die persönliche Kreditbeziehung zwischen einer Bank und ihrem Darlehensnehmer gehörte lange Zeit zu den wesentlichen Stabilitätsankern des Kapitalismus. In den letzten Jahren galt sie streckenweise als antiquiert – auch unter Politikern und Aufsichtsbehörden. Wer erinnert sich beispielsweise noch an den bizarren Streit zwischen der deutschen Finanzaufsicht und dem Kölner Privatbankier Alfred Freiherr von Oppenheim? Damals wollte man seine Bank zwingen, Kredite nicht mehr nach persönlicher Erfahrung jahrelanger Kundenbeziehungen zu vergeben, sondern nur noch nach streng formalisierten Kriterien wie in den Großbanken. Heute schlägt das Pendel in der öffentlichen Debatte in die genau entgegengesetzte Richtung zurück: Die Verbriefung von Krediten, also der Risikotransfer von einer darlehensgebenden Bank an Investoren auf dem Kapitalmarkt, gilt nun per se als Teufelswerk.
Diese Art der Diskussion scheint mir typisch für Deutschland. Statt nach den genauen Ursachen der Krise zu forschen und konkrete Abhilfen zu suchen, versteigen wir uns in eine Kardinaldebatte über den Kapitalismus als solchen. Die Schlüsselbegriffe dieser Debatte stammen nicht mehr aus der Ökonomie, sondern aus der Moraltheologie. Die „Süddeutsche Zeitung“ spricht vom „Fegefeuer des Kapitalismus“, die „Zeit“ vom Ende eines Zeitalters der „Verblendung“, und selbst die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ruft eine Epoche des „Unglücks“ aus. Die linken Großtheoretiker füllen die Seiten der Feuilletons in Deutschland: Ulrich Beck erklärt die freie Marktwirtschaft zur „Fiktion“ und redet über die „Entgrenzung des globalen Ausnahmezustands“. Und Jürgen Habermas wünscht sich den „Gezeitenwechsel“ herbei, um das vermeintliche „Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes“ zu beseitigen.

Das große Staatsversagen
Dabei sollte es in Wahrheit nicht darum gehen, das erfolgreichste Wirtschaftssystem der Geschichte zu revidieren, sondern den wunden Geist des Kapitalismus wieder zu heilen. Ein genereller Rückzug aus der Welt der modernen Finanzinstrumente wäre beispielsweise verheerend für das langfristige globale Wachstumstempo. Schon jetzt zeigt sich beispielsweise, wohin ein völliger Verzicht auf Kreditverbriefungen führen würde: Wenn die Banken alle Darlehen in ihren eigenen Bilanzen halten müssen, werden sie dem industriellen Mittelstand in Deutschland künftig wesentlich weniger Kapital zur Verfügung stellen können als bisher. Worum es also in einer vernünftigen Debatte gehen sollte, wäre allein die Frage: Wie können wir durch geeignete Regeln verhindern, dass die Banken zu hohe Risiken eingehen, weil sie diese Risiken an die Kapitalmärkte weitergeben können?
Im Gegensatz zum weit verbreiteten Geschrei über das „Versagen der Märkte“ sollten wir uns vor allem mit einer Form globalen Staatsversagens beschäftigen: der Politik des billigen Geldes. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Joachim Starbatty erinnerte vor kurzem in einem fulminanten Aufsatz zu Recht an die Kapitaltheorie des großen Ökonomen Eugen von Böhm-Bawerk, der von der „zentralen Rolle des Zinses als Determinante des gesamtwirtschaftlichen Produktionsaufbaus“ überzeugt war. Vereinfacht gesagt, läuft Starbattys Argumentation darauf hinaus, die Billig-Geld-Politik vieler Staaten (vor allem der USA und Japans) habe den Zins als rationales Lenkungsinstrument der Volkswirtschaft außer Kraft gesetzt. Zu viel Geld floss jahrelang über die Staatsverschuldung in den Konsum und in Kapitalmarktmaschinerien zur Generation von noch mehr billigem Geld. Dieses Verhalten stand im genauen Gegensatz zum eigentlichen Geist des Kapitalismus, der in seinem Ursprung auf dem Prinzip des kurzfristigen Konsumverzichts zur Sicherung mittelfristigen Kapitalaufbaus und damit langfristigen Wohlstands basiert. Oder anders gesagt: Geld muss langfristig wieder teurer werden, damit es nicht unproduktiv verschleudert wird. Und nur in privater, nicht in staatlicher Hand kann Kapital produktiv arbeiten.

Auf der Suche nach Leadership
Damit landen wir beim größten Paradoxon dieser Wochen: Weil die Finanzkrise in die schlimmste Krise der Realwirtschaft seit den dreißiger Jahren umgeschlagen ist, versagen die normalen Instrumente der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Auch der Leitzins der Zentralbanken funktioniert nun nicht mehr als Lenkungsinstrument. Die Zentralbanken fluten die Kapitalmärkte zu Recht mit Liquidität, die Staaten pumpen Milliarden als Konjunkturhilfen in Realwirtschaften. Nur so lässt sich in einer „keynesianischen Situation“ noch eine Depression wie nach dem Schwarzen Montag von 1929 verhindern. Zugleich aber bekämpfen die Nationalstaaten die Krise heute mit den denkbar gefährlichsten Mitteln: Durch das billige Geld, das sie in die Märkte drücken, schaffen sie in diesen Monaten bereits wieder den Keim der nächsten großen Spekulationsblase. Wie man das billige Geld wieder einfangen soll, das weiß zur Stunde niemand.
Nie war Leadership deshalb so wichtig wie heute – in der Politik, aber auch in der Wirtschaft selbst. Staatliche Garantien (zum Beispiel für die Spareinlagen) können die Menschen beruhigen und von einem Run auf die Banken abhalten. Neue (hoffentlich bessere) Regeln und Gesetze für die Kapitalmärkte können Exzesse mildern. Aber allein schaffen sie noch kein Vertrauen. Milton Friedman und Anna Schwartz schrieben in ihrem Klassiker „A Monetary History of the United States“ zu Recht, jede Bankenkrise der Vergangenheit habe die Bedeutung von Persönlichkeiten unterstrichen, die Verantwortung übernahmen und Führungsstärke zeigten. John Kenneth Galbraith schildert in seinem legendären Report über die Börsenkrise von 1929 („The Great Crash“) eine bezeichnende Szene: Am Donnerstag, dem 29. Oktober 1929, einigten sich die wichtigsten Banker um 12 Uhr im Büro von J.P. Morgan an der Wall Street, gemeinsam den Aktienmarkt zu stabilisieren. Börsenchef Richard Whitney begab sich anderthalb Stunden später in den großen Handelssaal der New York Stock Exchange und platzierte persönlich einen Auftrag für 10 000 Stahlaktien bei einem Broker. „Das war’s“, schreibt Galbraith: „Die Banker griffen offensichtlich ein. Der Effekt war elektrisierend.“
Getrieben, nicht geführt
Solche elektrisierenden Momente von Führungskraft gab es auch in der jetzigen Finanzkrise – beispielsweise am 8. Oktober, als Premierminister Gordon Brown überraschend 50 Milliarden Pfund an Staatskapital in die britischen Banken pumpte und damit eine Rettungsaktion in ganz Europa anschob. Ohne Brown wäre es vermutlich in wenigen Tagen zum völligen Stillstand des Interbankenhandels in Europa und zu unberechenbaren Bankenzusammenbrüchen gekommen. Auch in Deutschland gab es solche Augenblicke der Führungskraft – aber leider viel zu wenige, viel zu spät. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück wurden immer wieder von den Ereignissen überrollt. Sie lagen in ihren Einschätzungen in der Regel falsch und mussten ihren Kurs immer wieder korrigieren. Zwar brachten die beiden wichtigsten Regierungsmitglieder das deutsche Rettungspaket im Schweinsgalopp durch das Parlament, als es hart auf hart ging. Aber insgesamt gehörten beide zu den Getriebenen in der Welt und nicht zu den Treibern.
Wenn wir mit dem Abstand einiger Jahre die Geschichte dieser Finanzkrise schreiben, werden wir wohl einen außergewöhnlichen Mangel an Führungskraft als eine ihrer wesentlichen Ursachen ausmachen. Die USA mit einer „lame duck“ als Präsidenten; die amerikanischen Banken ohne eine Führungsfigur von der Statur Pierpont Morgans; die deutschen Kreditinstitute über Wochen abgetaucht, statt Krisenkommunikation zu betreiben; unsere Politiker ahnungs- und deshalb orientierungslos in der komplexesten Finanzkrise aller Zeiten. Geführt wurde zu wenig, geredet (Steinbrück!) oft zu viel. Wie schrieb doch Franz Kafka? Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt.

Dieser Beitrag wurde nicht geprüft, www.silbernews.at übernimmt keine Verantwortung für Angemessenheit oder Genauigkeit dieser Mitteilung. Quelle: http://www.handelsblatt.com