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1929 und heute "Die Krankheit des Geldes"

Von Frank Schirrmacher
28. Oktober 2008 Wird jetzt eine neue Regierung in Hessen, wird dann auch eine in Thüringen von der Linkspartei „geduldet“, so entsteht eine neue Situation. Aufgrund der Abstimmungsanomalie im Bundesrat, wo Enthaltungen als „Nein“ gewertet werden, kann die Linkspartei dann über von ihr erzwungene Enthaltungen als Mitspieler in vier Landtagen den Bund in erstaunlichem Umfang kontrollieren.
Man braucht gar nicht in die Tiefen der Politik zu gehen, um zu erkennen, dass allein diese beiden Worte „Duldung“ und „Enthaltung“, die passivisch klingen, aber in Wahrheit höchste Aktivität verraten, die Titel einer gesellschaftlichen Revolution sind, die im Gewand der Evolution, des Geschehen-Lassens erfolgt. Im Windschatten der Finanzkrise, die in Wahrheit, wie Paul Krugman gerade dargelegt hat, zu einer Weltwirtschaftskrise sich auswächst, entstehen Bruchlinien, die man später staunend betasten wird: „Ach, hier, der Haarriss, damals begann es.“Auch 1929 konnte niemand erklärenDas Problem ist, dass wir einerseits etwas ganz Neues erleben, das unsere Welt grundlegend verändern wird, andererseits aber in dem Maße, da das Neue bedrohlich wächst, in unseren Köpfen gleichzeitig die historischen Analogien explodieren. „Damals begann es“ – das heißt bei uns immer: damals, 1929. Jeder Abiturient weiß, sollte jedenfalls wissen, was damals begann. Der unglückselige Professor Sinn, der, im Widerspruch, aber dadurch erst ihn setzend, den Zusammenhang zwischen Geld, Juden und Crash hergestellt hat, ist nur der augenfälligste Ausdruck dieses assoziativen Verfahrens. In ihm steckt ganz offenkundig die Paranoia als Triebenergie. Doch der hysterische Unterton ist durch die Tatsachen allein nicht zu erklären. Sondern nur dadurch, dass wir im Augenblick, wenn wir von der Welt des Oktober 2008 reden, uns immer in einem symbolischen System absoluter Metaphern bewegen. Absolut: weil die Krise, die den Aufstieg Hitlers ermöglichte, der wahrscheinlich traumatischste Einstiegspunkt in die jüngere deutschen Geschichte ist. Es ist keine Erinnerung, die von der Bundeskanzlerin bis zu Oskar Lafontaine aufgerufen wird; es ist eher ein Wurmloch, das die ganze Gesellschaft zu Zeitreisenden in eine Vergangenheit macht, die plötzlich ihre Zukunft zu werden droht.
Was in den historischen Metaphern und Analogien aufbewahrt ist, verwirklicht sich in extremen gesellschaftlichen Lagen. Wer jetzt John Kenneth Galbraiths Standardwerk über den Crash von 1929 (erschienen 1954) liest, wird erstaunliche Analogien zu unserer heutigen Lage erkennen – zum Beispiel, das niemand erklären konnte, was eigentlich finanztechnisch passierte –, aber viel wichtiger ist der entscheidende Unterschied. Krise und Depression hatten keinen auch nur annähernd traumatisierenden Vorläufer; sie waren, von kleineren Hinweisen auf frühere Crashs abgesehen, pure Gegenwart.

Alarmierende Feststellung
Das ist heute anders, und dieses Andere muss man sehr ernst nehmen. Wir reden nicht vom Siebenjährigen Krieg oder der Tulpenbaisse, wie noch bei der Internetblase, sondern vom Brutofen der Jahrhundertkatastrophe. 1929 heißt 1933, und 1933 heißt 20. Januar 1942 und heißt 1945. Auf der Ebene des politisch-symbolischen Redens, war dieser Kontext immer präsent, auf der Ebene finanzwirtschaftlicher Tatsachen ist er ganz neu. Diese Tatsache ist den Handelnden noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Bislang koppelte sich die Befürchtung, „wieder so weit zu sein“, an Extremismus, Hoyerswerda und Fremdenfeindlichkeit. Doch nun – zuletzt von Wolfgang Schäuble – wird wohl zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein systemisches Ereignis der Ökonomie als Wiederkehr der Vorgeschichte des „Dritten Reichs“ gesehen.
Die Frage ist, inwieweit diese Analogie, die im politisch-moralischen Diskurs aufklärerisch wirkt, im ökonomisch-politischen Bereich nicht zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen führt und erst die Realität schafft, von der sie redet: nämlich die Herrichtung eines sozialen Typus – den der eigenen Großeltern oder Urgroßeltern –, in dem eine verunsicherte und deklassierte Gesellschaft zumindest Identifikation findet. Das ist eine Operation, auf die Hans-Werner Sinn mit seiner grotesken Inversion eine Probe liefert. Die soziologische Feststellung, dass Crash und Inflation in den Familiengeschichten der Deutschen tiefere Spuren hinterlassen haben als der Krieg, wirkt alarmierend. Konkret übersetzt: Ist die Wiederkehr von Weltwirtschaftskrise plus Linkspartei eine Vorahnung des späten Weimar? Erzeugt der historische Assoziationszwang, der nicht mit Ideen, sondern der wirtschaftlichen Deklassierung ganzer Bevölkerungsschichten rechnet, die sich plötzlich nach dem Zusammenbruch des Systems in der Rolle ihrer Urgroßeltern wiederfinden, nicht statt Aufklärung das Gefühl, einen ganz anderen Text sprechen zu müssen?

Wissen, dass es ein 1929 gab
Diese Besorgnis ist umso ernster, wenn man die jüngsten Äußerungen des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Daniel Kahneman zur Kenntnis nimmt. Es geht in diesem Zusammenhang nur darum, was passiert, wenn sich historisch-politische Katastrophen nicht mehr mit der Sphäre der Politik assoziiert werden – „Berlin ist nicht Weimar“, extremistische Parteien, Jenningers Rede –, sondern mit der Sphäre des Geldes und der Finanzen. Kahneman hat experimentell gezeigt, dass sich ökonomische und soziale Urteilsfindung in Wahrheit in einem Raum der Poesie abspielen; er ist umgeben von symbolischen Bedeutungszusammenhängen, die das Mister-Spock-Image ökonomischer Rationalität geradezu in die Luft sprengen können. Koppeln sich hochtraumatisierte Begriffe (selbst das Wort „krank“) mit der Sphäre des Geldes, verändern sich erst die assoziativen Strukturen und schließlich die Moral der Handlungen. Eine Versuchsperson, die in einem Raum sitzt, in dessen Ecke ein Computer steht, dessen Screensaver Geld zeigt, wird dem Versuchsleiter, dem Stifte herunterfallen signifikant weniger oft helfen. Oder: Eine Versuchsperson soll eine unlösbare Aufgabe lösen und, wenn sie nicht weiterkommt, um Hilfe bitten. Zeigt der Screensaver Geld, verdoppelt sich die Zeit, bis der Probant um Hilfe bittet. Oder: Eine Versuchsperson wird gebeten, zwei Sessel für ein Gespräch zusammenzustellen. Zeigt der Screensaver Geld, vergrößert sich die Entfernung zwischen beiden Sesseln erheblich.
Verbindet sich die Sphäre des Geldes mit der Sphäre der Traumatisierung und ihrer Metaphern – und was wäre traumatischer als „1929“ –, schaffen Metaphern völlig neue Reaktionsmuster. Die selektive Wahrnehmung verändert sich nachweislich, schafft immer mehr Gründe, die Metapher mit der Wirklichkeit zu verwechseln und führt zu einem „state of emergencies“.
„Was war es, was wir glaubten, erwarten zu können“, so lautet eine berühmte Frage Hans Blumenbergs. In der gegenwärtige Lage stellt sich die Gegenfrage: „Was ist es, was unsere historische Erfahrung, uns zu erwarten zwingt?“. Der IWF hat nach jeder Wirtschaftskrise Instrumentarien entwickelt, Krisen zu analysieren. Heute wissen wir, dass er damit immer nur jede vergangene Krise erklären, aber nie eine künftige vorhersagen konnte. Sinns Missgriff ist ein Beweis dafür, dass die historische Analogien unter dem Druck der ökonomischen Krise zu jeder Instrumentalisierung missbraucht werden können. Die Politik wäre gut beraten, den Menschen zu sagen, dass sie nicht in der Lage von 1929 sind. Das heißt nicht, das wir sicherer sind. Aber es heißt, Rationalität und Erkenntnis einzufordern: Mag sein, dass die Sphäre des Geldes jetzt im Jahre 1929 aufgetaucht ist; wir Menschen des Jahres 2008 sind Menschen, die wissen, das es ein 1929 gab.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AP

Dieser Beitrag wurde nicht geprüft, www.silbernews.at übernimmt keine Verantwortung für Angemessenheit oder Genauigkeit dieser Mitteilung. Quelle: http://www.faz.net